Wir kümmern uns auch um ein Heim für ehemalige Straßenkinder und AIDS-Waisen in der Nähe von Nairobi. Informationen über das „Pangani Lutheran Children Centre“ gibt es unter www.plcc-nairobi.org. Hier sind ein paar Lebensgeschichten, die wir ab 2012 dort aufgeschrieben haben.
Die Geschichte der AIDS-Waisen Ann Njoki aus Kenia
Ich heiße Ann Njoki und bin 14 Jahre alt. Ich habe noch zwei Schwestern, Cynthia (12 J.) und Jane (11 J.) und einen jüngeren Bruder Brian (9 J.). Bis zu meinem 10. Lebensjahr lebten wir alle mit meiner Mutter in einem Slum bei Thika. Mein Vater hat uns verlassen, als Brian geboren wurde. Von da an hätte meine Mutter allein für uns sorgen müssen. Da sie schon vor Brians Geburt sehr krank und schwach war, musste ich mich, obwohl ich erst 8 Jahre alt war, um meine jüngeren Geschwister kümmern. Das heißt, ich musste etwas zu Essen besorgen. Zum Glück fand ich eine Straßenkinder-Gang, der ich mich anschließen durfte. Sie wussten immer, wo es etwas zu holen gab, z.B. wo man bei einem Supermarkt alte Lebensmittel in einem Container fand oder wo man Lebensmittel stehlen konnte. Man musste aber schnell sein, wenn man beim Stehlen nicht erwischt werden wollte. Als ich eines Tages in unsere Wellblechhütte im Slum zurückkam, fand ich drei vor Hunger und Durst weinende Kinder vor. Meine Mutter lag in einer Ecke der Hütte. Sie rührte sich nicht. Ich fasste ihre Hand, aber sie war kalt. Als ich in ihr regloses Gesicht sah, wusste ich, dass sie tot war. Nach mehreren Tagen der unglaublichen Trauer, überlegte ich mir, wie alles weitergehen sollte. Ich wusste, dass wir die Miete für die Wellblechhütte nicht bezahlen konnten. Wir mussten sie verlassen und standen mit nichts auf der Straße. Ich dachte an meine Großmutter. Vielleicht konnte sie ja helfen. Sie hatte ein kleines Stückchen Land am Rande eines anderen Slums.
Ann Njoki mit 9 Jahren als Straßenkind
Ich band mir Brian (damals 4 Jahre alt) mit einem Tuch auf den Rücken und nahm Jane (damals 7 Jahre alt) an die Hand, um zusammen mit meiner Schwester Cynthia (damals 8 J.) die 12 Kilometer bis zum Slum meiner Großmutter zu gehen. Wir machten Pausen, weil wir vor Hunger geschwächt waren. Kurz vor Einbruch der Dunkelheit erreichten wir endlich die kleine Hütte meiner Großmutter. Als sie uns in unserem jämmerlichen Zustand sah und vom Tod ihrer Tochter, unserer Mutter, hörte, brach sie in Tränen aus und ihr lautes Jammern wollte kein Ende nehmen. Bald weinten wir alle und dann kamen einige Nachbarn, um zu hören, was passiert war. Zwei Frauen erbarmten sich und gaben uns Kindern Essen und Trinken. Eine dritte kümmerte sich um die völlig gebrochene Großmutter. Nach zwei Tagen hielt ich die Zeit für angebracht, meiner Großmutter unsere aussichtslose Lage zu schildern und um ihre Hilfe zu bitten. Mir war klar, dass sie nicht alle vier von uns aufnehmen und ernähren konnte; also bat ich sie, sich um Brian und Jane, die beiden Kleinsten, zu kümmern. Cynthia und ich würden auf den Straßen der Stadt schon zurechtkommen. Nach langem Hin und Her war unsere Großmutter bereit, diese Lösung zu akzeptieren.
Cynthia und ich lebten zwei Jahre als Straßenkinder. Oft sahen wir morgens oder nachmittags die Schulkinder in ihren Uniformen. Ich gebe zu, dass ich neidisch war, denn zu gerne hätte ich Lesen, Schreiben und Rechnen gelernt. Aber das war nicht möglich, denn wir mussten uns um Nahrung kümmern. Gekleidet waren wir in schmutzige Lumpen und unser einziger Trost war oft die Schnüffelflasche*.
Eines Tages passierte etwas Besonderes. Wir hatten in der abendlichen Kälte ein Feuer aus Plastikabfällen gemacht, um uns zu wärmen. Wir erzählten uns von den Erlebnissen des Tages, als einer von uns auf die Gestalt einer Frau zeigte, die sich ganz offensichtlich unserer Gruppe näherte. Tom, der kühnste von uns, macht eine freche Bemerkung und alle lachten. Aber die Frau hielt nicht inne, sondern kam näher. Gespannt sahen wir ihr entgegen und es wurde immer ruhiger.
„Ich habe an der Thika Road ein Haus, in dem ehemalige Straßenkinder und Waisen leben. Ich habe noch zwei Betten frei und möchte euch fragen, wer mit mir kommen will. Ihr bekommt zu essen und zu trinken und einen Schlafplatz. Vielleicht kann ich auch einen Platz in der Schule besorgen.“
Schweigen! – Aber dann ging es los. Alle redeten durcheinander. Einige von der Gruppe wollten überhaupt nicht von der Straße weg, weil ihnen ihre Freiheiten trotz der vielen Nachteile so viel wert waren. Andere waren misstrauisch. Schließlich einigten wir uns so, dass das Los auf die Jüngsten von uns fiel, also auf Cynthia (damals 10 J.) und mich (damals 12 J.). Nach einigem Palaver – auch wir hingen an der Gruppe – waren wir einverstanden. Wir gingen mit der Frau, ohne uns umzusehen.
Nun sind wir seit zwei Jahren in diesem Heim für gerettete Kinder. Wir haben ein Dach über dem Kopf und ein richtiges Bett. Vor allem aber dürfen wir zur Schule gehen. Wir sind so glücklich.
*Die Straßenkinder benutzen kleine Plastikflaschen, die mit Klebstoff gefüllt sind. Der Geruch des Klebstoffs wirkt wie eine Droge betäubend und ist höchst gesundheitsschädlich.
Ann Njoki mit 14 Jahren im Kinderheim
Das Mädchen Wanzila und ihre Geschwister
Das Mädchen Wanzila ist 10 Jahre alt. Ihr Bruder John ist 8 Jahre und ihre kleine Schwester Agnes ist fünf. Die drei Kinder sind im Matharau-Slum in Thika in der Nähe von Nairobi aufgewachsen. Wir begegneten ihnen im „Child rescue centre“. John und Agnes hatten große Narben an ihren Händen, die auf schwere Verletzungen deuteten. Wanzila erzählte uns ihre Geschichte:
„Ich als die Älteste musste immer auf meine kleinen Geschwister aufpassen, weil meine Mutter meistens weg war. Wir hatten fast immer Hunger. Häufig versuchten wir, etwas Essen zu stehlen. Aber das klappte nicht immer, und wenn der Hunger allzu groß war, suchten wir in dem Müll, der in unserer Wohngegend überall herumliegt, etwas zu finden.
Agnes und John haben oft vor Hunger geweint, auch weil unsere Mutter nicht da war. Dann bin ich losgelaufen, um sie zu suchen. Meistens lag sie dann irgendwo betrunken und war nicht ansprechbar. Das ist nicht immer so gewesen. Seit unser Vater bei einer Prügelei ums Leben gekommen war, wich die Traurigkeit nicht mehr aus ihren Augen.
Aber einen bestimmten Tag im letzten Jahr werde ich nie vergessen. Wir drei saßen eng aneinandergedrückt beieinander, um uns gegenseitig gegen die Abendkälte zu schützen. Wir summten Kinderlieder, um unseren Hungerschmerz zu vergessen, als unsere Mutter am Eingang unserer Hütte erschien. Wir sprangen auf, um sie zu begrüßen; aber sie drückte uns widerwillig beiseite und legte sich in die Schlafecke, die aus schmutzigen Lumpen bestand. John und Agnes kuschelten sich an sie; ich blieb einige Schritte entfernt stehen. Immer wieder stieß meine Mutter die beiden weg. Plötzlich sprang sie auf und schrie: „Ich kann euch nichts geben! Nichts, nichts, nichts!“ Die Verzweiflung über ihr Unvermögen war ihr ins Gesicht geschrieben. Aber John und Agnes klammerten sich wieder an sie. Da nahm meine Mutter ihre letzte Kraft und schrie: “Haut ab! Geht auf die Straße! Geht weg! Geht doch endlich weg!“ Schluchzend hockte sie sich in die Ecke. John und Agnes, die nichts von alledem wirklich begriffen, krochen zu ihr hin, um ihre Wärme zu spüren. Da plötzlich schoss meine Mutter hoch, nahm den Topf mit heißem Wasser, den ich für den Tee aufgesetzt hatte und goss das kochende Wasser den beiden über die Hände. “Geht weg!“ schrie sie immer wieder, „Geht doch endlich weg!“. Wie erstarrt hatte ich dem ganzen Geschehen zugesehen, bis ich endlich begriff, dass wir die Flucht ergreifen mussten. Ich nahm meine beiden wie besinnungslos schreienden Geschwister und rannte mit ihnen ins Freie.
Zu unserem Glück liefen wir einem Nachbarn in die Hände. Er sorgte dafür, dass meine beiden Geschwister ins Krankenhaus kamen. Ich durfte bei ihnen bleiben. Die beiden wurden ärztlich versorgt und wir alle drei bekamen Weißbrot und Milch. Das war wie Weihnachten! Aber meine Gedanken, was wohl aus uns werden würde, bedrängten mich die ganze Zeit.
Nachdem wir gegessen und getrunken hatten, öffnete sich die Tür und eine freundliche Frau kam herein. Sie wollte ganz genau wissen, wie wir gelebt hatten und wie es zu den schrecklichen Verbrennungen von John und Agnes gekommen war. Ich versuchte ihr klarzumachen, dass wir zu unserer Mutter nicht zurück konnten. Unsere Zukunft lag wie das Leben vieler Kinder auf der Straße.
Die Frau erzählte uns von einem Haus für Kinder, die keine Eltern mehr hatten, ein Haus, in dem es zu essen und richtige Betten gab. Dorthin wollte sie uns bringen. Ich war zwar etwas misstrauisch, aber ich dachte, schlimmer als bisher könnte es ja nicht kommen. Dann sah ich in die warmen Augen der Frau und vertraute unser Schicksal ihr an.
Nun sind wir schon ein dreiviertel Jahr hier. Wir sind froh, dass man uns gerettet hat. Wir haben meistens genug zu essen und zu trinken, ein richtiges Bett und John und ich können zur Schule gehen. Alle Kinder hier haben schlimme Dinge erlebt. Und manchmal, wenn sich der eine oder andere in eine Ecke verkriecht, dann lassen wir ihn in Ruhe, denn wir wissen, die Erinnerung an ihre Vergangenheit hat ihn oder sie eingeholt.
John, Agnes und ich haben gehört, dass unsere Mutter im Gefängnis ist. Wir haben aber auch gehört, dass wir sie nicht besuchen dürfen.
Das ist schlimm, besonders für die Kleinen, John und Agnes.“
Beatrice im Kinderheim „Pangani Lutheran Children Centre“ (Besuch am 8.1.2014)
Dies ist die Geschichte von Beatrice. Sie ist für ihr Alter von 11 Jahren ein kleines, zartes Mädchen. Wir versuchen ein Gespräch mit ihr und hoffen, dass sie etwas auftaut. Über Fragen nach ihren Freundinnen, Lieblingsfach in der Schule und Freizeitbeschäftigung versuchen wir einen Zugang zu ihr zu finden. Zögerlich fragen wir nach Geschwistern. Sie hat einen Bruder, dessen Alter ihr nicht bekannt ist und eine 15-jährige Schwester. Sie weiß nicht, wann sie die beiden das letzte Mal gesehen hat.
Für das erst zwei Wochen zurückliegende Weihnachtsfest konnte für Beatrice kein Familienangehöriger gefunden werden, bei dem sie das Fest hätte verbringen können. Mit einigen wenigen anderen Heimkindern blieb sie im Heim und verlebte dort das Weihnachtsfest, aber sicher hat ihr doch etwas gefehlt: die Mutter.
Plötzlich, als wir schon ein Ende des Gesprächs befürchten, fließt es wie aus einem übervollen Topf aus ihr heraus. Sie redet und redet, leider in Kisuaheli, aber wir ahnen, dass es um ihre traurige Lebensgeschichte geht. Die Tränen scheinen nahe, aber sie kommen dann doch nicht. Eine junge deutsche Freiwillige übersetzt uns Beatrices Geschichte:
Beatrice hat bis zu ihrem sechsten Lebensjahr mit ihrer Mutter auf der Straße gelebt. Sie haben gebettelt und die Menschen haben ihnen manchmal Geld gegeben. Davon haben sie sich etwas zu essen besorgt.
Ich erinnere mich an in Lumpen gekleidete Frauen, die man in Nairobi auf dem Bürgersteig in einer Ecke kauernd findet, mit einem Bündel im Arm – ein kleines Kind – eine schmutzige Hand bettelnd ausgestreckt. Wenn das Kind größer geworden ist, wird es, weil es Mitleid erweckt, zum Betteln los geschickt. Was Beatrice auf der Straße alles gesehen und erlebt hat, weiß nur sie allein. Ob sie manchmal doch darüber spricht? Mit ihrer Freundin Risper vielleicht?
Mit sechs Jahren wurde Beatrice – mit Einverständnis der Mutter? – von einem Sozialarbeiter in das Kinderheim gebracht. Völlig verdreckt und krank wurde sie hygienisch und medizinisch versorgt. Ein Jahr sollte es dauern, bis sie sich an die notwendigen Regeln des Zusammenlebens gewöhnt hatte. Es gab Schwierigkeiten: Mehrmals ist sie weggelaufen und mehrere Tage weggeblieben, bis sie hungrig wieder zurückkam. Es gab Konflikte, weil sie sich nicht an die Regeln im Zusammenleben gewöhnen konnte: Beim Essen z.B. wartete sie nicht auf das Tischgebet, sondern verschlang das Essen sofort aus Angst, es könnte ihr weggenommen werden. Die Seifenstücke in den Duschen klaute sie und verkaufte sie auf der Straße.
Der Versuch, sie einzuschulen, sollte zunächst misslingen. Verschiedene Blockaden, u.a. eine extreme Konzentrationsschwäche und die Unfähigkeit, in einer Klassengemeinschaft zu lernen, machten zuerst eine Einzelbetreuung notwendig. Schritt für Schritt war dann ein Leben und Lernen in einer Klassengemeinschaft möglich. Dies alles erklärt, warum Beatrice mit 11 Jahren statt in der 5. Klasse erst in der dritten ist.
Nach fünf Jahren Heimaufenthalt mit allen erforderlichen Maßnahmen kann jetzt gesagt werden, dass Beatrice zufriedenstellend lernt. Aber manchmal gibt es Zeiten, in denen gar nichts geht; Beatrice auch nicht ansprechbar ist. Sie lebt dann in einer Gedankenwelt, zu der niemand Zugang bekommt. Dies erfordert eine Einzelbetreuung durch eine Sozialarbeiterin.
Ihre traurige Kindheit, die wir nur ahnen können, wird immer wie eine Last auf ihr liegen. Man muss ihr Mut machen und ihr sehr viel Liebe geben. Die kenianischen “Heimmütter“ versorgen jeweils 12 Kinder und bemühen sich sehr.
Beatrice, so denke ich, was für ein schöner Name. Ihre Mutter hat diesen Namen für sie ausgesucht. Ob sie noch lebt? Wo ist Beatrices Vater?
Wir versuchen uns vorzustellen, was aus Beatrice geworden wäre, wenn sie nicht in das Kinderheim gebracht worden wäre, wenn niemand aus Deutschland die 2,-€ pro Tag gespendet hätte, die das Heim für ihre Versorgung benötigt.